Ich wohne schon so lange im Osten, dass ich fast schon vergessen habe, dass die meisten Menschen in Deutschland bei dem Namen „Frankfurt“ an Frankfurt am Main denken. Ich nicht. Ich sage nicht mal mehr Frankfurt Oder, so wie es ja auch überall geschrieben wird: Frankfurt/O. Damit man das bloß nicht verwechselt. Damit bloß keine falsche Erwartungen geweckt werden. Frankfurt an der Oder ist keine Großstadt und von dort sind es nur noch 500 km nach Warschau. Aber es ist sehenswerter als viele denken und sollte heute eigentlich unsere Endstation sein.
Aber das hätte Gegenwind bedeutet, weshalb wir noch im Zug entschieden, in Frankfurt zu starten. An den Rückweg haben wir dabei nicht gedacht, aber davon später mehr. Weil wir schon sehr oft den Oder-Neiße Radweg von Frankfurt nach Norden gefahren sind, beschließen wir auf der polnischen Seite Richtung Norden nach Kostrzyn nad Odrą (es gibt noch ein anderes Kostrzyn weiter im Land) zu fahren. Bis 1945 hieß es Küstrin, westlich der Oder liegt der Ort Küstrin-Kietz. Gehörte mal alles zusammen. Und ein Ort ist Küstrin-Kietz eigentlich auch nicht mehr.
Von Slubice auf der anderen Oderseite hat man einen wunderbaren Blick auf Frankfurt. Weniger wunderbar ist Slubice und auch der Radweg, der entweder aus schlechtem Pflasterbelag besteht oder gleich ein holpriger Sandweg ist, begeistert uns nicht. Da hilft uns auch der Rückenwind wenig. Egal. Ich war in diesem Jahr noch nicht an der Oder und das war eindeutig ein Fehler.
Irgendwann endet der Weg an einem alten Grenzturm. Vielleicht endet er auch gar nicht, aber da wir kein polnisch können und unser Glück eh weiter auf einer nahegelegenen Landstraße versuchen wollen, biegen wir ins Landesinnere ab und endlich macht sich auch der Rückenwind bemerkbar. Leider nimmt auch der Verkehr zu, aber die 10 km sind schnell geschafft und recht bald erreichen wir Kostrzyn. Oder eher das, was zwischen der Grenze und der eigentlichen Stadt liegt, eine Art Zwischenwelt, die aus Tankstellen, Hotels und Zigarettenläden besteht. Diese Zwischenwelt liegt direkt an der alten Festung, von der seit dem zweiten Weltkrieg eigentlich kaum noch etwas übrig ist.
Wir halten uns nicht lange auf, sondern fahren weiter, zurück auf die deutsche Seite. In der Nähe von Manschnow soll es eine Einkehrmöglichkeit geben und tatsächlich finden wir am Fort Gorgast eine Gaststätte. Trotz bestem Wetter ist hier fast nichts los. Kaum dass sie uns sieht, steigt die Wirtin schon auf’s Rad, Salat holen, wie sie uns erklärt. Wir sitzen unter Bäumen, direkt am Wassergraben, der das Fort komplett umschließt. Der Räucherfisch ist zwar ausverkauft, aber die Brötchen mit Matjes und Bismarkhering schmecken auch herrlich. Irgendwann dämmert uns, dass wir erst die Hälfte unseres Weges geschafft haben und die Tageshöchsttemperaturen auch noch nicht erreicht sind.
Schweren Herzens verlassen wir unseren schattigen Platz und spüren schon nach wenigen Metern den Gegenwind: wie ein heißer Föhn bläst er ordentlich von vorne. Südwind. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, erheben sich vor uns plötzlich die Oderhänge – für Brandenburger Verhältnisse sehen die Hänge wie eine Bergkette aus. Auf jeden Fall nichts, was wir hier erwartet hätten. Den heißen Gegenwind im Gesicht wagen wir uns an den Anstieg. Irgendwann muss ich abreißen lassen, aber das ist mir egal. Ich will jetzt nur noch, dass der Wind aufhört, dass es kalt ist und neben der Straße ein See mit klarem, kalten Wasser auftaucht. Passiert aber alles nicht. Mich umgibt hier nur weites, trockenes Land über das der heiße Wind hinwegfegt.
Aber irgendwann habe auch ich den Hang erklommen und lege mich in Libbnichen zu den anderen in den Schatten. Uns ist klar: bei der Tour de France hätte dieser Hügel nicht mal für eine Bergwertung der ersten Kategorie gereicht. Kaum haben wir uns erholt, stellen wir fest, dass der letzte durchgehende Zug ab Briesen (Mark) in knapp zwei Stunden fährt. Leichte Panik erfasst uns bei dem Gedanken, der Willkür der Bahn ausgesetzt zu sein und am Ende noch mehrfach umsteigen zu müssen. Das böse Wort „Schienenersatzverkehr“ spricht niemand aus. Wir fahren auf kürzestem Weg über die Landstraße – die plötzlich Betonstraße heißt – nach Petershagen, wo sowohl Berlin wie auch Warschau schon ausgeschildert sind. Wir schlagen uns aber quer durch den Wald und erreichen nach einer kleinen – gefühlten – Ewigkeit in Alt Madlitz eine wunderbare, asphaltierte und schattige Fahrradstraße.
Leider ist der Spaß nach 4 km bereits vorbei, denn schneller als gedacht haben wir unser Ziel Briesen erreicht. 80 km bei über 30 Grad und Gegenwind. Es gibt Mitfahrer, die behaupten, dies sei die härteste Tour seit langem gewesen. Mir persönlich ist Hitze aber lieber als Kälte. Am Bahnhof in Briesen gibt es – oh Wunder – noch eine geöffnete Gaststätte mit einem Außer-Haus-Verkauf. Die Klimaanlage im Zug ist leider ausgefallen und neben uns sitzt eine Dame, die bestimmt nicht auf eine Horde verschwitzter, Bier trinkender Radfahrer gewartet hat. Als wir uns anfangen über Bücher zu unterhalten, stellt sich heraus, dass ihr Mann Proust neu übersetzt hat und so endet diese Tour ganz untypisch mit einem Gespräch über die Frage, ob man sich nicht doch noch mal der „Suche nach der verlorenen Zeit“ widmen sollte…